Tirana oder Die Mühen der Ebene

12. Etappe: Shkodra – Tirana, 119 Kilometer, 438 Höhenmeter

Eine geheimnisvolle Kalibrierung passt die Willens- und Spannkraft bei mir immer der aktuellen Herausforderung an. Und zwar so, dass ich es grad so schaffe. Egal ob 160km steil oder 100 flach, wie jetzt zum Zielort nach Tirana. Eigentlich kein Ding, denkt man.

Und nimmt deshalb um 12 Uhr doch noch einen Kaffee im Sitzen, weils so schön ist, hier in Shkodra. Und weil es eben an der richtigen Einstellung und Anspannung mangelt. Aber 100 Kilometer in der albanischen Ebene wollen, auch gefahren sein.

Also richtiger gesagt, die wollen gar nichts, ich meine, das zu wollen, nur im Moment nicht so richtig. Und so hält man hier an für ein Foto, nimmt dort noch ein Eis und dreht da noch eine Ehrenrunde in Leizhë am Mausoleum für den Nationalhelden Skanderberg.

Und schwups ist es bei der Fahrt durch die Tiefebene schon wieder vier und immer noch 60 Kilometer to go. Und dann zwickt das Knie – eine Betäubung will sich nicht einstellen. Zum Schluss hat den Herr Überplaner auch der Übermut gepackt, als er das letzte Etappenddrittel schnurgerade auf die Einfallsstrasse legte, um Kilometer zu sparen. Schon von der Ferne ist ein gigantischer Stau zu erkennen: Das wäre jetzt ein unschönes Finale, dann lieber nochmal 10 Kilometer extra Zickzack – auf den Nebenwegen.

Die sind schön zu fahren, man muss aber ein Auge haben auf gefährliche Schlaglöcher, tote Schlangen oder Gullilöcher – ohne Deckel. Die albanischen Autofahrer*innen machen aber alle Schwächen des Belags wieder weg. Sie pflegen einen defensiv freundlichen Fahrstil, halten Abstand und warten auch mal mit den Überholmanöver. Auch weil ich hier auch nicht mehr der völlige Exot bin: In wenigen Kilometern sehe ich hier mehr Fahrradfahrer*innen als auf der ganzen Tour

Vor allem auch ältere Menschen benutzen selbstverständlich das Rad, sogar auf der Hauptstraße – die Seitenstreifen sind erfreulich breit, in Shkodra gibt’s kilometerlange Extra-Spuren für Radfahrer.

Jahrzehntelang waren die Albaner*innen im eigenen Land eingesperrt. Dafür durften sie sich unter dem gefälligen Blick des brutalen Diktators im eigenen Lande abstrampeln. Das hat sich gehalten. Und eine immense Neugier: „Where’re you from?“, rufen fast alle Kinder und Jugendlichen, an denen ich vorbeifahre. Das wollte bis dato keiner wissen – weil sie es ja offenbar oft schon vorher wussten. Auch wegen der missverständlichen belgischen Trikolore am Rad. Am Marktstand schenkt man mir den Apfel und kurz darauf nochmal das Leben als ich nach dem letzten Getränkekaufstop nochmal kurz auf die Einfallstrasse gen Tirana einbiege,: Erst als das Fahrerhaus fast meinen Helm berührt, bemerke ich den LKW. Stehend. Drinnen ein freundlicher, gar nicht aufgebrachter Fahrer, der mir die Vorfahrt schenkt. Ein Hoch auf Albanien! – Das war übrigens in den 70ern die Parole der KPD / ML, einer winzigen deutschen K-Gruppe, die allen Ernstes den Weg zum albanischen Sozialismus pries. Sie orientierte sich nicht wie andere K-Sekten an China, sondern mehr an dessen Verbündeten auf dem Balkan. Das abgeschottete Land war damals so etwas wie das Nordkorea Europas. Als sich der Diktator Enver Hodscha ’78 wegen der Reformen Deng Xiao Pings von China abwandte, wie schon 1961 wegen der Entstalinisierung von der Sowjetunion und zuvor von Jugoslawien, wird das albanische Freiluftgefängnis für diese deutschen Genossen zum letzten wahren Paradies der Werktätigen. „Hört Radio Tirana“ heisst es nun im Parteiorgan Roter Morgen.

Nur im deutschsprachigen Propagandasender Albaniens erfahre man die Wahrheit über den Kapitalismus die revisionistischen Verräter an der reinen kommunistischen Idee.

Der KPD/ML Parteiführer Ernst Aust wird sogar mehrmals von Enver Hodscha persönlich empfangen. Später wurden dann deutsche Genossen eingekauft, um in Tirana akzentfrei die „Nachrichten“ des Propagandasenders zu verlesen. Dafür gabs vor Ort ein relativ privilegiertes Leben mit Zugehfrauen und Fahrer, weit weg von der gelobten albanischen Arbeiterklasse oder gar den Folter-Gefängnissen des Geheimdienstes. Die kommunistischen Vorleser aus Deutschland waren so abgeschirmt , wie ausländische Starspieler heute. Und wegen Fußball habe ich mich ja auch auf den Weg gemacht. Tirana ist das Ziel unserer diesjährigen Groundhopping-Tour. Tatsächlich hat Albanien eine große Fußball-Tradition. Nicht nur weil es 1967 Deutschland mit einem Unentschieden den Weg zur EM verbaute. Nirgendwo gab es im Verhältnis zur Bevölkerung mehr Fans als hier. Nicht ganz so erstaunlich, schließlich waren andere Vergnügungen in der Diktatur auch nicht erlaubt. Wir wollen sehen, wie es heute ausschaut. Während ich den Flughafen passiere, ist der Rest der Reisegruppe noch in der Luft. Wie’s aussieht werde ich heute mit dem Rad als erster vor Ort sein. Ich nähere mich auf Schleichwegen dem Stadtzentrum, mal durch arme heruntergekommene Viertel, mal durch wohlhabendere Neubaublocks. Viel Grün, futuristische Hochhäuser daneben Ostblockbaracken.

Als ich gegen 20 Uhr auf der Busspur durch Tiranas Boulevard rolle, fühlt es sich ein bisschen an wie auf den Champs-Elysée. Tatsächlich geschafft!

Festbankett!

2 Gedanken zu „Tirana oder Die Mühen der Ebene“

  1. Hallo Dietrich,
    was für eine spannende Reise durfte ich täglich mit Spannung von meinem bequemen Sofa aus begleiten?
    Vielen Dank dass Du uns daran teilhaben lässt, danke für die tiefen Einblicke, klasse Fotos und die tägliche Vorfreude auf die nächste Etappenstory.
    Komm gut zurück.
    Liebe Grüße Michael

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