11. Etappe: Budva – Skodra, 100 Kilometer, 1930 Höhenmeter
Niemals, ich wiederhole niemals mit dem Rad nach Budva. Es gibt nur gruselige Optionen dort wieder weg zu kommen. Auch wenn man eine Bergziege ist. Denn der vermeintliche Fluchtweg über den Seoštik-Pass entpuppt sich bei Tageslicht als Gebirgsschnellstrasse in die alte Hauptstadt und jetzigen montenegrinischen Regierungssitz Celtinje. Ich drehe unten noch eine Runde durch die bei einem grossen Erdbeben 1979 komplett zerstörte und dann komplett rekonstruierte Altstadt.
In sehr großer Höhe rast der dichte Verkehr auf der Trasse am Fels entlang und wirkt fast surreal. Und da soll ich wirklich hoch? Naja sind nur 20 Kilometer, in der Fachsprache Killermeter genannt, wie Bernd mich aufklärt. Hilft ja nichts, ich strample in die Strecke. Rechts Fels oder Abgrund links die LKWS, auf Tuchfühlung. Die anfängliche Hoffnung, dass der Anstieg das Tempo drosselt und die oft doppelten Fahrtspuren für mehr Distanz sorgen, werden schnell enttäuscht. Gern bleibt man rechts und rückt mir auf die Pelle, auch wenn links eine ganze Spur frei ist. Dafür kommen mir auf meiner Spur Talraser entgegen, die trotz durchgezogenem Strich bergab mit neunzig überholen – Horror. Ich traue mich nicht beim Fahren zu Trinken, ein Schlenker beim Verstauen der Flaschen wäre gefährlich.
Also steure ich Einfahrten von Stichstrassen oder die improvisierten Haltebuchten an. Die bergen dafür das Risiko, dass man auf grobem Kies bergauf nicht genügend Tempo bekommt, um gerade in den Verkehr einzufädeln. Hier gibt es keine guten Lösungen: Sich Raum in der Straße nehmen, führt nur dazu, dass der Abstand noch enger wird. Weiter rechts auf dem weißen Strich fahren? Lieber nicht, denn rechts davon sind leicht abschüssige Steinplatten, auf denen man wahrscheinlich das Gleichgewicht verliert. Ist es eigentlich schlimmer am Fels zerquetscht oder in den Abgrund geschleudert zu werden. Vor lauter Unfallangst bemerke ich gar nicht, dass ich gerade 850 Höhenmeter strample. Im Tunnel nehme ich den Gehstreifen. Dann nach mehr als zwei Stunden endlich, ganz oben darf darf ich rechts Richtung Skudari-See abbiegen. Und nach nur wenigen Sekunden fahre ich durch völlige Einsamkeit. Leider ist der Weg zunächst zu steil und der Untergrund zu schlecht, um es laufen zu lassen, ich bremse talwärts. Welches Geräusch macht eigentlich eine abgefahrene Scheibenbremse? Jetzt keine Zeit für Tutorials.
In dem Bergdorf Utgr empfängt mich das Denkmal eines heroischen Partisanen, der breitbeinig das Gewehr lässig geschultert in die Berge blickt. Dann um die Ecke eine ganze gusseiserne Kompanie von riesigen Kämpfer-Köpfen vor der winzigen Gemeindebaracke.
Alles verdiente Guerilleros aus der Region. Einer mit extra großer Büste: Der Kommandant der Montenegropartisanen und später Minister unter Tito. Und weil das nicht genügend Denkmäler sind für einen Flecken, gedenkt die orthodoxe Kirche noch einem Opfer der kommunistischen Heroen. Der Bruder des Kommandanten war Priester und beim Versuch aus dem kommunistische Jugoslawien zu fliehen, exekutiert worden. Dagegen war mein Ritt über die Berge Pipifax. Dann endlich darf ich auf einer Straße zum See brausen.
Im Uferort Virpezar zerrt mich ein Gastwirt fast direkt vom Rad in sein sympathisches etwas angegangenes Terrassenlokal, Auch er spricht mich gleich auf deutsch an. Früher erkannte man die hier an der Uniform, heute am Bike. Nach der Fischplatte will er die Google Rezension auch gleich selbst übernehmen. Da ich meine Login Daten nicht parat habe, bleibt sie online ungelobt. Was jetzt kommt ist wohl von Montenegro als Wiedergutmachung für erlittene Qualen gedacht.
Auf in weiten Teilen frisch asphaltierten, aber völlig verkehrsfreien Wegen auf halber oder ganzer Höhe fast 50 Kilometer am Skutari- See entlang.
In der Ferne die schneebedeckten Zweieinhalbtausender des mir bislang unbekannten Prokletije, unter mir der größte und wohl unbekannteste See Süddeuropas. Darin schwimmen Inselkuppen – darauf alte Kirchen und Klöster. Die Uferberge glimmen voll gelber Blüten
Hier könnte man Winnetou meets Herr der Ringe drehen, wenn das einer sehen wollte . Nach der Schlimmsten nun die wohl die schönste Strecke der Tour. Direkt hintereinander. Montenegro bleibt sich treu. Noch zwei Mal muss ich über 450 Meter und es wird wohl wieder Dämmerung, bis ich Shkodra erreichen werde. Um das Ganze noch ein bisschen spannend zu machen, versagt nun das Vorderlicht, obwohl es die ganze Nacht geladen wurde. Wann endlich wird diese Achillesferse der Fahrradtechnik beseitigt. Ich formuliere im Kopf Beschwerdebriefe und schwöre mir einen Nabendynamo anzuschaffen. Womöglich muss ich mich vom Hotel ein Taxi an die Grenze schicken lassen oder die Beamten borgen mir eine Taschenlampe. Einstweilen versuche ich es mit lebensverlängernden Maßnahmen und schließe sie an die Powerbank an – solange leuchtet sie sowieso nicht, auch dann, wenn sie funktionieren würde. Wer denkt sich sowas aus? Ich folge weiter dem Radweg, doch der macht vor der Grenze einen Bogen und endet am Meer.
Komoot möchte, dass ich über einen Schotterhang auf eine riesige offenbar frisch gebaute Straße steuere. Sie ist absolut verkehrsfrei, was dieses Mal eher Zweifel als Freude weckt. Auch weil nirgendwo Albanien angekündigt wird. Zwei Kilometer habe ich die Straße für mich – dann ist Schluss oder wie Komoot meint „Folgen sie dem unbefestigten Weg.“
Eigentlich eine Kategorie für ungeteerte Wege, aber hier meint es einfach – schlagen sie sich ins Gebüsch. Trampelpfad Hilfsausdruck für den Spalt im Unterholz. Für einen Umweg ohne Licht ist es aber viel zu spät also versuche ich das Rad über die Felsen zu schieben und zu tragen, lasse mich dabei von mannshohem Gestrüpp zerkratzen. Einmal muss ich das Rad vor mir herunterlassen, so dass es unten auf die Seite fällt. So kraxle ich im Halbdunkel durchs Niemandsland der albanisch -montenigrischen Grenze. Ist die eigentlich gesichert? Wie ist der Schusswaffengebrauch geregelt? Was wenn mich die Polizei aufgreift? Gut, dann werde ich wenigstens mit funktionierenden Scheinwerfern aufs Revier gebracht und habe eine Übernachtung. Aber vielleicht endet das hier auch am Stacheldraht – schliesslich war Albanien mal das abgeschottetste Land Europas. Nach einem Kilometer auf und ab: Eine Fahrradspur im Matsch und ein Kuhhaufen, und da noch einer. Nie hat mich der Anblick von Scheisse glücklicher gemacht. Unterhalb einer Hausruine lichtet sich das Dickicht. Mal schauen, wo ich bin. Bzw wo mein I Phone ist. Das liegt während der Fahrt immer in der Lenkertasche. Nur da ist es nicht. Auch nicht in der Rückentasche.
Wahrscheinlich hat sich die Klappe der Tasche geöffnet, als sich das Rad an der Steilstelle auf die Seite gelegt hat. Ok, fassen wir die Lage zusammen: Ich bin nicht nur vom Weg abgekommen, ich kann auch niemand mehr bitten mich hier rauszuholen. Ich wüsste ja auch gar nicht wen , da das Hotel im Handy gespeichert ist. Noch was? Ach ja, inzwischen ist es fast dunkel. Und das mit der Lampe hatte ich ja schon erläutert. Doch der Leuchte geht nach der Zwischenladung tatsächlich wieder ein Licht auf. Ich überlasse das Rad seinem Schicksal und stolpere zurück ins Dickicht. Absurd zu glauben in der Nacht ein schwarzes Handy finden zu können. Aber weil ja hier alles sowieso komplett absurd ist, liegt es nach einem halben Kilometer Wegs genau an der vermuteten Stelle. Der Rest ist schnell erzählt. Der Pfad wird zum Weg zum Sträßchen. Der erste Mensch, dem ich begegne, trägt keine Uniform und einen Pass will er auch nicht sehen; aber er versichert mir auf Englisch, das sei der Weg nach Shkodra. Ok ich bin also tatsächlich illegal eingereist, trotz gültigem Reisepass. Das muss man erst mal schaffen. Nur ein, zwei Kilometer hinter dem Niemandsland vergnügt man sich auf der Seepromenade und ich rolle gepflegt 12 Kilometer flach durch die Nacht, als wäre nie etwas gewesen.
In Shkodra geht’s sogar auf dem getrennten Radweg zum Hotel. Übrigens: Ein Licht hat hier kein einziges Velo. Weder vorn noch hinten.
Dietrich!!
Was ist los? Kein neuer Eintrag? Mache mir Sorgen.
Bin schon seit Etappe vier süchtig. Du kannst uns jetzt unmöglich ohne Stoff lassen.
So viele Fragen sind noch offen.
Wer baut teure Fahrräder, die offensichtlich nicht mal die Tour Siegestor-Giesinger Berg ohne Schäden überstehen würden? Wen hasst du inzwischen mehr, SUV Fahrer oder Brummi-Lenker?
Bist du inzwischen in Ortschaften, die sich mehr als drei Buchstaben leisten können?
Was hast du heute liegen lassen, Brille oder Geldbeutel?
Planst du, aus Gewichtsgründen deine Zähne gleich in Albanien zu lassen?
Zeigst du irgendwann ein Foto der umwerfenden Naturschönheiten oder behält du die für dich?
Und vor allem: Warum? Warum?
Schwer beeindruckt,
Max