Überplant

1. Etappe. Stuttgart – Villach: 427 km , 6170 Höhenmeter (E-Bike)

Heute geht es endlich los. Irgendwann muss es ja dann auch mal losgehen. Spätestens dann, wenn man anfängt sicherheitshalber Transportsicherungen für Scheibenbremsen zu besorgen und die Ausweichrouten 4b bis d für die Strecke Zadar – Split zu konzipieren, sind das ernste Anzeichen dafür, dass die Tour überplant ein könnte. Ja richtig: ÜBERplant. Eine ganz neuartige Gefahr für jemand, der bislang durch ungekonnte Reise-Inprovisation von sich reden machte. Stichwort: Endstation Eurostar, Brüssel, oder Quattro Statione Napoli. Gegen solch zwanghafte Organisationswut hilft am wirkungsvollsten das elektrobetriebene schienengebundene Verkehrsmittel, das Bahn zu nennen der Respekt vor der uhrwerkgleichen Schweizer SBB eigentlich verbietet. Schon vor dem ersten Radkilometer summiert sich am Sonntagmorgen die angekündigte Verspätung des Zubringer ICEs in Stuttgart Hauptbahnhof alle 10 Minuten in einer linear ansteigenden Funktion um 20, 40, 60 Minuten. Eigentlich kein Problem bei einer Umsteigzeit von 1:45 in München Richtung Villach. Es sei denn, man ist überplant: Ziel war, das portable Schreibgerät in der Umstiegspause in der Anstalts-Schreibstube im Glockenbachviertel zu deponieren, um bei der Rückkehr in zwei Wochen direkt vom Fahrradsattel ins Arbeitsgeschirr steigen zu können. Mit jeder weiteren Verspätungsmeldung schrumpft das Zeitfenster für diese Aktion bedrohlich zusammen. Die Horrorvision; Mit dem Laptop im Rucksack durch Kroatien. Oder: Noch schlimmer: Ihn dort auf die Post bringen. Aber wohin dann damit? Was macht eigentlich die gute alte Gepäckaufbewahrung? Nun, ich sag’s euch: Dinge maximal 24 Stunden aufbewahren. Wahrscheinlich aus Angst vor Bombenlegern. Die Terrorabwehr fordert eben Opfer, aber doch bitte nicht auf meinem Rücken – durchs bergige Kroatien! Also vielleicht ein früherer Ersatzzug? Schließlich ist ja die Zugbindung aufgehoben, verkündet mein Navigator und vielleicht könnte man ja ausnahmsweise – „Der hat kein Fahrradabteil, den dürfen sie nicht benutzen“ verkündet der als Servicefachkraft getarnte Schalterbeamte. Seine Empathie für meine von seinem Unternehmen verursachten Transportprobleme, wärmt mir das Herz, eröffnet aber keinerlei Optionen. Es sei denn, die der eigenen Demontage – wozu habe ich denn die Radtasche der Schweizer Bahn? Die SBB garantiert bei abgebautem Vorderrad die Mitnahme des eingetüteten Rades als Handgepäck, ohne extra Reservierung eines Stellplatzes. Die namensgleiche deutsche Abart von Zugunternehmeb stellt es allerdings ins Belieben des Personals, ab wann genau das Gefährt in der Tasche als demontiert gilt. Ob auch noch das Hinterrad runter muss oder der Lenker, oder man doch bitte schön das Rad auf Handtaschengrösse zusammenfalten soll. Die Aussicht darauf in der sechs-minütigen Umsteigezeit von RE zu ICE in Esslingen(!) erstmals diesen Umbau zu bewerkstelligen, nur um dann womöglich in Ulm wieder als ratloser Radler mit radlosem Bike aus dem Zug zu fliegen, lässt mich auch von dieser Option Abstand nehmen. Also rein in den um 65 Minuten verspäteten Regelzug und rechnen. Schafft man es in 30 Minuten vom Bahnhof zur Schreibstube und was, wenn nicht? Als letzte Hoffnung bei institutionellem Versagen bleibt nur der Freundschaftsdienst. Der ist allerdings am Ostersonntag auch sehr dünn besetzt. Bzw befindet sich selbst in privaten Verpflichtungen. ( Kathrin – ich hoffe, das Essen hat geschmeckt) Außer: The one and only: Alexander Dees. Seines Zeichens Bellevue di Monaco-Genosse (bitte googeln) und Oberkellner und Chef-Unterhalter in der Anstalts-Kantine Kaiser Otto. Er wird mein Schließfach. Mit ihm löst sich das traurige Transportknäuel am Münchner Hauptbahnhof in Wohlgefallen und Wohlgeschmack auf. Statt hektischen Gepäck-Aktionismus, nehmen wir im kleinen Stehitaliener „O Caffè Mio“ einen ebensolchen, teilen uns ein Vanille und Schokocroissant und plaudern dabei über perverse Bahnerlebnisse. Genau an dem Ort, an dem ich seit Jahren vorbei zum Zug eile und jedes Mal denke: Da würde ich gern mal nen Kaffee trinken. Das geht ja schon mal richtig kitschig los. Ohne Rucksack und voller Vorfreude, gondle ich dann im Zug durch die sonnigen Alpen, während sich die Radprofis durchs regennasse Flandern kämpfen. Eurosport 1 überträgt. Nach der Zieleinfahrt in Oudenarde, gibt’s noch ein Live Tutorial eines Mitreisenden im ICE. Titel: „Die Schweizer Vélotasche unter besonderer Berücksichtigung deutscher Gepflogenheiten. Oder: Wie remontiere ich beide Laufräder, weil man ja nie weiß, ob ein demontiertes Vorderrad als Opfergabe den Schaffnern der sogenannten Deutschen Bahn gnädig stimmt.“ Meine Erkenntnis des Tages: Eine Tasche für Bettwäsche eignet sich ideal als Behältnis für das zweite Laufrad. Jetzt aber genug demontiert: Aussteigen mit einer Hamburger Bikertruppe im regnerischen Villach. Wie sieht eigentlich dieses Wetter auf dem RegenRadar aus? Ach trocken. Dann will ich mir nicht ausmalen, was mäßiger Regen bedeutet. Muss ich auch nicht. Fahr ich ja morgen durch. Erstmal zur Bäckerei Andi auf eine Mehlspeise: Die Neugier lässt mich zu Buchteln greifen. Eine gute Wahl, etwas gefülltes rohrnudelartiges. Ich befriedige die Neugier des jungen Verkäufers: Ach nach Albanien wolle ich? Da komme er her. Und würde gern mit. Es geht ja richtig kitschig weiter. Das hatte ich gar nicht geplant.

DB – hilft gegen Überplanung
Mein wundervolles Schließfach
Villach: Laut Regen-Radar trocken
Mehlspeise

8 Gedanken zu „Überplant“

  1. Aber wenn der Laptop nun doch in München deponiert ist, wie hälst du uns dann per dieses Blogs auf dem Laufenden?! Doch nicht etwa mit der Handytastatur?
    So oder so gute, sichere & positiv erlebnisreiche Fahrt!
    Glad Påsk från Sverige

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  2. Mensch, Dietrich, Du drehst am großen Rad der Weltgeschichte. Ich versinke in Demut. Gestern war ich nach langer Zeit mal wieder mit der Regionalbahn in meinem Heimatdorf: Mögglingen zwischen Schwäbisch Gmünd und Aalen. Nur grausame Geschichten über Schwurbler und Intriganten, die den Staat, die Regierung und alle „Ausländer“ hassen. Könnte geradewegs nach Albanien flüchten, sehe als Spaziergänger angesichts meines Alters allerdings gewisse Zeitprobleme. Erst mal aber wünsche ich Dir alles Beste – und denk im Bahnbetrieb immer an Weselsky!
    Herzliche Grüße
    Joe

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  3. Na das fängt an super an, 😉 Sehr unterhaltsam zu lesen! Bin sehr gespannt, wie es weiter geht!
    Viel Glück mit dem Wetter und auch sonst viel Spaß!
    LG Paul

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  4. Hey Dietrich,
    voller Ehrfurcht registriere ich, dass bereits deine erster Blockeintrag so lang ist, dass Claus und ich ihn werden kürzen müssen. Weiter so!
    Ich bin im Herzen bei dir, mit dem Körper allerdings lag ich heute stundenlang auf der Couch, Schokosterhasen zertrümmernd, das Ganze mit Restchampagner aus Frankreich runterspülend. Bei Abenteuerlust steht es also 1:0 für dich.
    Kannst du für mich das Unternehmen nochmal kurz einordnen? Wo genau liegt es denn auf einer Skala von „Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis“, über „Eines Mannes Ziel ist niemals ein Ort, sondern eine neue Art, die Dinge zu sehen.“ (Henry Miller) bis zu „Reisen ist, in jedem Augenblick geboren werden und sterben.“ (Victor Hugo)?
    All Heil! (noch 1910 Radfahrer-Gruß, dann seltsamerweise aus der Mode gekommen)
    Max

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